Thüringer Thesen für die Zukunft ländlicher Regionen

Seit Jahren wird an Stammtischen, im politischen Feuilleton und in Landtagen über den sogenannten Ländlichen Raum diskutiert. Die Bandbreite der Meinungen ist dabei groß und reicht von Studien des IWH, die ländlichen Regionen weitestgehend sich selbst überlassen wollen, bis zu Apellen wie „Rettet das Dorf!“, in denen Investitionen in ländliche Strukturen als unumgänglich für die Zukunft unseres Gemeinwesens angesehen werden. Auch in Thüringen stellt sich die dringende Frage, wie sich die Regionen abseits der sogenannten Städtekette, also Dörfer, Kleinstädte und Mittelzentren weiterentwickeln wollen. Der demographische Wandel, die Digitalisierung und die Klimakrise erfordern Veränderungen in allen Lebensbereichen. Die Pandemie verstärkt diese Umbrüche und beschleunigt sowohl positive als auch negative Entwicklungen unserer Gesellschaft. Wir brauchen jetzt einen Plan, wie wir in Zukunft in unseren Städten und Gemeinden auf dem Land leben wollen. Mit den folgenden Thesen legen wir für die SPD Thüringen unsere Vorschläge dafür vor.

 

1. Ländliche Regionen haben Zukunft

 

Wir sind davon überzeugt, dass ländliche Regionen einen hohen ökonomischen, ökologischen, sozialen, kulturellen und demokratischen Mehrwert für unseren Freistaat haben, auf den wir als Gesellschaft nicht verzichten können. Auf dem Land organisieren Bürgerinnen und Bürger ihr Zusammenleben mit hoher Kompetenz, viel Engagement und in gemeinschaftlichen Strukturen. Es gibt dort viel Wissen und Erfahrung, die nicht verloren gehen dürfen. Wir wollen die Lebensqualität in Thüringen erhöhen, die Natur schützen und das Gemeinwesen stärken – der Schlüssel dafür liegt auf dem Land.

 

2. Wir brauchen mehr regionale Strukturpolitik

 

Wir müssen aufhören, städtische Vorzüge mit viel Geld auf dem Land zu imitieren. Stattdessen gilt es die individuellen Stärken, des ländlichen Lebens im Allgemeinen und der Regionen im Speziellen, zu fördern. Die bisherige Strukturpolitik erweist sich als unwirksam gegen die Landflucht. Obwohl besonders in Ostdeutschland viel Geld in Infrastruktur-Projekte gesteckt wurde und der Breitbandausbau voranschreitet, bluten Dörfer weiter aus. Gleichzeitig haben große Städte Probleme, die grundlegenden Dienstleistungen und öffentliche Daseinsvorsorge für Zuziehende bereitzustellen. Dieses Ungleichgewicht muss beseitigt werden, wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der Förderpolitik. Die kommunale Selbstverwaltung geht einher mit finanzieller Leistungsfähigkeit. Um Eigenanteile bei Förderprogrammen bereitzustellen und unkomplizierte Investitionen vor Ort zu ermöglichen, muss die Investitionspauschale für Kommunen fortgesetzt werden.

 

3. Familien finden eine hohe Lebensqualität abseits der großen Städte

 

Steigende Mieten, Umweltverschmutzung, fehlende Möglichkeiten für Kinder, selbstständig zu entdecken und zu spielen – die Statistik zeigt, dass es immer mehr Familien aufs Land zieht. Die COVID-Pandemie verstärkt den Trend und zeigt, dass man beispielsweise durch Home-Office nicht täglich die örtliche Nähe zum Büro braucht. Diesen Trend müssen wir nutzen, um beste Voraussetzungen für Familien zu schaffen, die aufs Land ziehen möchten. Durch mehr Familienzuzug, mehr Einwohner und damit mehr Kaufkraft wird sich zeitversetzt auch das Einzelhandelsangebot in diesen Regionen verbessern und Ortskerne beleben.

 

4. Intelligente Eigenheimförderung für Familien

 

Die Statistik zeigte schon vor der Pandemie, dass der überwiegende Teil der Deutschen in Dörfern oder Kleinstädten leben möchte. Die aktuelle Debatte um den Neubau von Eigenheimen verkennt völlig, dass es bereits viel Leerstand und Verdichtungspotentiale gibt. Sie sind der Schlüssel, um vielen Menschen ein bezahlbares Eigenheim zu ermöglichen. Öffentliche Investitionen sollten also Mobilitätsangebote und die digitale Anbindung aller Landesteile fördern, um das Eigenheim in ländlichen Regionen attraktiv zu machen. Mit einer intelligenten Wohnbauförderung für Familien, vordringlich im Sanierungsbestand und bei Lückenbebauung, geben wir den Ortskernen wieder das Dorfleben zurück. So bleibt am Monatsende auch mehr im Geldbeutel von Familien, um die regionale Kaufkraft zu stärken.

 

5. Mehr ostdeutsches Selbstbewusstsein ist gefragt

 

Drei Jahrzehnte nach dem Sturz des SED-Regimes gibt es immer noch einiges zu tun. Förderprogramme für kleinteilige, ökologische Landwirtschaft helfen den großen, aus LPG’en hervorgegangenen, Agrarbetrieben beispielsweise wenig. Junge, gut ausgebildete Ostdeutsche haben immer noch wenig Aussicht auf Erbschaft oder Reichtum und damit sinkt auch die Wahrscheinlichkeit von Existenzgründungen und Privatinvestitionen. Es gibt aber viele, die hier anpacken oder zurückkommen. Dieser Impuls braucht politischen Rückenwind. Wir brauchen deshalb gleichsam Investitionen in die Bildungslandschaft, Mobilität und Wohnraum. Diese müssen zielgerichtet in Ostdeutschland erfolgen!

 

6. Stadt braucht Land und Land braucht Stadt

 

Keine Frage: wir brauchen beides. Große Städte und kleine Dörfer bedingen einander und ergänzen sich in ihren Unterschieden. Städtische Vorzüge, wie beispielsweise Hochschulansiedlungen, ein breites Kulturangebot und ein großes Waren- und Dienstleistungsangebot ergänzen sich mit den Vorzügen der ländlichen Regionen, wie Naherholungsgebiete, landwirtschaftliche Produkte und attraktive Wohn-, Arbeits- und Kulturräume. Stadt und Land müssen deshalb eine gleichwertige Beachtung durch Politik und Gesellschaft erfahren.

 

7. Ländliche Regionen sind attraktive Bildungslandschaften für Fachkräfte

 

Gemeinwohldenken, der hohe gesellschaftliche Wert von Bildung und eine Anpack-Kultur machen die Bevölkerung auf dem Land aus. Die Bereitschaft zur stetigen Bildung und Weiterbildung gehört zur selbstverständlichen Arbeitskultur. Wenn wir Fachkräfte ausbilden und halten wollen, müssen wir auch dieses Potential nutzen und wohnortnahe Grund-, Regel- und Berufsschulen erhalten und auf den neuesten Stand bringen. Eine differenzierte Bildungslandschaft bringt gut ausgebildete Fachkräfte und Handwerker hervor und lässt kein Talent ungenutzt.

 

8. Ländliche Regionen sind die Wirtschaftsmacht Thüringens

 

Die Bedeutung der ländlichen Regionen als Wirtschaftsstandort wird häufig übersehen. Dabei sind dort rund sechzig Prozent der Betriebe und ein Großteil der mittelständischen Unternehmen angesiedelt. Viele erfolgreiche Marktführer haben ihren Sitz im ländlichen Raum und die Beschäftigung ist auf dem Land deutlich stabiler. Ländliche Regionen sind attraktive Standorte für Handwerk und produzierendes Gewerbe. Vielfältige Potenziale für Nischenökonomien und innovative Wirtschaftsformen können dort offensiv genutzt werden und einen Beitrag zum nachhaltigen Wirtschaften und der Pflege handwerklicher Traditionen leisten. Hinzu kommt der Tourismus, mit dem viele Regionen Thüringens punkten können und der ein bedeutender und wachsender Wirtschaftsfaktor ist.

 

9. Öffentliche Mobilität geht nur freiwillig

 

Während in den Städten der öffentliche Personennahverkehr eine feste Größe ist, gibt es auf dem Land weiter vergleichsweise wenige Angebote. Das wollen wir ändern, aber nicht mit der Brechstange. Ein Sammelsurium aus Verboten und Begrenzungen hilft nicht weiter, denn der Versuch, Autos gegen Fahrräder und ÖPNV gegen Individualverkehr auszuspielen, ist oft danebengegangen. Auf dem Land gibt es den Druck der verstopften Straße und der nicht vorhandenen Parkmöglichkeiten nicht, der ÖPNV muss also mit Qualitäten punkten und nicht nur mit Alternativlosigkeit. Bevor jedoch zielgenaue Lösungen entwickelt und getestet werden, braucht es einen thüringenweiten Verkehrsverbund und ein landesweit gültiges, für alle bezahlbares Ticket.

 

10. Der Ländliche Raum ist die Heimat des Ehrenamts

 

Viele Menschen in Thüringen schätzen ein naturnahes Landleben mit kurzen Wegen. Sie gestalten es mit aktivem Vereinsleben, viel Gemeinschaftssinn und engagierter Anpack-Kultur. Die zahllosen Aktivitäten und Erfolgserlebnisse, zum Beispiel bei der Rettung des letzten Gasthofs oder Ladens, zeigen die Kraft der Gemeinschaft und machen deutlich, dass ländliche Regionen Chancen haben. Generell haben ländliche Regionen wertvolle ökonomische, ökologische, kulturelle und soziale Potentiale und bringen diese auch in hohem Maße in die Gesamtgesellschaft ein. Aktiv gelebtes Brauchtum und Traditionen, verbunden mit Offenheit für neue Kulturangebote, machen ländliche Regionen zu Zentren des Ehrenamts und bürgerschaftlichen Engagements. Sie schaffen regionale Identität und stärken den Zusammenhalt der Gesellschaft. Aktive Bürgerinnen und Bürger sorgen für ein gutes Miteinander, aber auch Eigeninitiative und Eigenverantwortung. Ehrenamtlich Tätige müssen von Land und Gemeinde Unterstützung, Wertschätzung und Anerkennung erhalten. Es braucht Entwicklungsmöglichkeiten und eine Qualifizierung des bürgerschaftlichen Engagements und einen massiven Bürokratieabbau, damit Engagierte sich in ihren Vereinen und Initiativen einsetzen können, statt Formulare auszufüllen